Leseprobe aus dem Inhalt (Auszug):
1. Kapitel – Die Sitte der Kinderprüfungen im Tempel zu Jerusalem
Es war Sitte und vorgeschriebener Brauch im ganzen Reiche der Juden, daß sie ihre Kinder, wenn sie das zwölfte Jahr zurückgelegt hatten, nach Jerusalem bringen mußten, wo sie im Tempel von den Ältesten, Pharisäern und Schriftgelehrten befragt wurden über alles, was sie bis zu diesem Alter besonders in der Lehre von Gott und den Propheten sich zu eigen gemacht hatten.
Für solche Prüfung war auch eine kleine Taxe zu entrichten, nach der die Geprüften, so sie es wünschten, gegen eine nochmalige kleine Taxe ein Fähigkeitszeugnis erhielten. Hatten sich die Kinder in jeder Hinsicht ausgezeichnet, so konnten sie dann auch in die Schulen des Tempels aufgenommen werden und hatten Aussicht, einst Diener des Tempels zu werden.
Konnten die Eltern nachweisen, daß sie dem Stamme Levi entstammten, so ging es mit der Aufnahme in des Tempels Schulen leicht. Konnten die Eltern das aber nicht nachweisen, so ging es mit der Aufnahme schlechter, und sie mußten sich in den Stamm Levi förmlich einkaufen und dem Tempel ein bedeutendes Opfer bringen.
Die Töchter waren von dieser Prüfung ausgenommen – außer sie wollten auf Antrieb ihrer Eltern sich auch prüfen lassen, der größeren Gottwohlgefälligkeit wegen. In diesem Falle wurden sie von den Altmüttern des Tempels in einer besonderen Behausung fein geprüft und bekamen auch ein Zeugnis von allen bis dahin erworbenen Kenntnissen und Fertigkeiten. Solche Mädchen konnten dann Weiber der Priester und Leviten werden.
Die Prüfungen der Knaben und noch mehr der Mädchen dauerten nur kurz. Es waren einige Hauptfragen schon für immer bestimmt, die ein jeder Jude seit langeher auswendig wußte.
Die Antworten auf die bekannten Fragen wurden den Kindern geläufig eingebleut, und es hatte der Prüfer die Frage kaum zu Ende gebracht, so war der geprüfte Knabe auch schon mit der Antwort fertig.
Mehr als zehn Fragen hatte kein Prüfling bekommen, und es ist darum leicht begreiflich, daß eine Prüfung bei einem Knaben kaum über eine Minute Zeit gedauert hat. Besonders wenn er die ersten Fragen ganz gut und sehr fertig beantwortet hatte, da wurden ihm die andern meist erlassen.
Nach vollbrachter kurzer Prüfung bekam der Knabe ein kleines Zettelchen, mit welchem er sich mit seinen Eltern an derselben Taxkasse zu melden hatte, bei der er ehedem die Prüfungstaxe entrichtete, wo er dann gegen Vorweisung des Prüfungszettelchens wieder eine kleine Taxe zu entrichten hatte, so er auf das Zettelchen ein Tempelzeugnis haben wollte. Kinder armer Eltern mußten ein Signum paupertatis (Armutszeugnis) mitbringen, ansonst sie zur Prüfung nicht zugelassen wurden.
Die Zeit der Prüfung war entweder zu Ostern oder zur Zeit des Laubhüttenfestes und dauerte gewöhnlich fünf bis sechs Tage. Bevor aber die Prüfungen im Tempel ihren Anfang nahmen, wurden schon ein paar Tage früher Tempeldiener in die Herbergen geschickt, um sich zu erkundigen, wieviele Prüfungskandidaten etwa anwesend seien.
Wer sich da besonders vormerken lassen wollte gegen ein kleine Taxe, der konnte es tun, weil er dadurch früher zur Prüfung kam. Die ohne Taxe mußten dann gewöhnlich die letzten sein, und mit ihrer Prüfung nahm man sich durchaus nicht viel Mühe, und die Zeugnisse blieben gewöhnlich aus. Man versprach ihnen wohl, solche einmal nachzutragen, woraus aber gewöhnlich nie etwas geworden ist.
Manchmal aber geschah es auch, daß Knaben von sehr viel Geist und Talent den Prüfern auch Gegenfragen stellten und Aufklärung über dies und jenes aus den Propheten verlangten. Bei solcher Gelegenheit gab es unter den Prüfern dann gewöhnlich verdrießliche und ärgerliche Gesichter; denn die Prüfer waren selten in der Schrift und in den Propheten mehr bewandert als heutzutage die sehr mager bestellten Abc-Lehrer. Sie wußten nur soviel, um wieviel sie zu fragen hatten. Darüber hinaus sah es gewöhnlich sehr finster aus.
Es saßen aber bei den Prüfungen, gewisserart als Prüfungskommissare, wohl auch einige Älteste und Schriftgelehrte. Sie prüften aber nicht, sondern hörten nur zu, was da geprüft ward. Nur im vorerwähnten besonderen Falle, so es sich der Mühe lohnte, fingen sie sich zu rühren an und verwiesen zuerst einem so Fragen stellenden Knaben seine unkluge Vermessenheit, der es gewagt hatte, seine Prüfer in eine unangenehme, zeitzersplitternde Lage zu versetzen.
2. Kapitel – Der geistreiche Jesusknabe im Tempel. Die Opfergabe des alten Simon. Die Vorfrage. Die Rede des jüngeren Schriftgelehrten
Aber so ein recht geistreicher Knabe ließ darauf den Kopf noch nicht hängen und sagte: „Alles Wirken in der großen Gotteswelt ist am Tage vom hellsten Sonnenlicht erleuchtet, und selbst die Nacht ist nie so finster, daß man gar nichts sehen sollte; warum muß denn gerade jene wichtige Lehre, die dem Menschen den Weg zum wahren Heile klarst und hellst zeigen soll, so verworren und keiner Seele verständlich gegeben sein?“
Und der Knabe, der den Ältesten eben dieses eingewendet hatte, war Ich selbst und brachte sie dadurch in eine große Verlegenheit, zumal Mir alles anwesende Volk sehr recht zu geben anfing und sagte: „Beim Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs – dieser Knabe ist zum Verwundern gescheit, der muß noch mehreres mit den Ältesten und Schriftgelehrten verhandeln! Wir wollen ihnen für ihn ein bedeutendes Opfer in den Gotteskasten legen.“
Ein sehr reicher Israelite aus Bethania (es war dies der damals noch lebende Vater des Lazarus, der Martha und Maria) trat hervor und erlegte für Mich ein Opfer von 30 Pfund Silber und etwas Gold bloß zum Behufe dessen, daß Ich länger mit den Ältesten und Schriftgelehrten verhandeln durfte.
Die Ältesten und Schriftgelehrten nahmen natürlich das große Opfer nur gar zu gerne an, und Ich bekam dadurch ordentlich Luft, mit den Ältesten in eine ganz außerordentliche und vorher aus sicherem Grunde nie dagewesene Besprechung kommen zu dürfen.
Aus dem Jesaias aber war schon die erste und die vorerwähnte Vorfrage, deren äußerst mystisch-dunkle Beantwortung dann eben den Grund zur folgenden gedehnten Verhandlung bildete, die wir nun werden folgen lassen. Wer sie mit gutem und liebereinem Herzen lesen wird, der wird auch vieles aus ihr für seine Seele und seinen Geist gewinnen.
Bevor wir aber zu der größeren Verhandlung kamen, und weil Ich die gut bezahlte Freiheit, zu reden, hatte, kehrte Ich zur Vorfrage zurück und fing die Ältesten und Schriftgelehrten über die einzelnen Punkte derselben zu befragen an.
Die Vorfrage aber war genommen aus dem Jesaias, 7. Kapitel, 14. Vers und 15. und 16. Vers dazu, und die Verse lauten: „So wird der Herr selbst euch ein Zeichen geben: Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie Emanuel heißen. Butter und Honig wird er essen, daß er wisse Böses zu verwerfen und Gutes zu erwählen. Aber ehe der Knabe lernt Böses verwerfen und Gutes erwählen, wird das Land, davor dir grauet, verlassen sein von seinen zwei Königen.“
Der erstere Teil der Vorfrage bestand darin: wer die Jungfrau und wer ihr Sohn Emanuel sei, und wann dies geschehen werde, daß solch ein Sohn in die Welt geboren werde. Die Zeit müßte schon da sein, indem das Land Jakobs schon seit mehreren Jahren seiner beiden Könige entsetzt sei und nun die Heiden zum Herrn habe. Ob etwa nicht jener vor zwölf Jahren zu Bethlehem von der Jungfrau Maria, die dem Zimmermanne Joseph angetraut war – noch nicht als Weib, sondern als Pflegebefohlene nach dem alten Brauche des Tempels – in einem Schafstalle geborene Knabe, dessentwegen die Weisen vom Morgenlande herbeikamen, um ihn als den verheißenen großen König der Juden zu begrüßen, dem Anna und Simeon im Tempel bei der Beschneidung ein großes Zeugnis gegeben haben, eben jener Emanuel sei, von dem Jesaias geweissagt habe.
Nun, auf diese nicht unbedeutende Vorfrage fing ein Ältester, so ein recht herrschsüchtiger Knauser, ein verworrenstes Zeug zusammenzuschwätzen an, das Ich gar nicht bekanntgeben will, weil er Mich daneben auch einen schlecht erzogenen Knaben nannte, da Ich schon von einem Aus-einem-Weibe-Geboren-werden etwas wüßte.
Nur ein jüngerer, ein wenig menschlicher aussehender Schriftgelehrter erhob sich dagegen und sagte, daß solches noch keineswegs auf eine schlechte Erziehung hindeute, da besonders in Galiläa die Knaben eher reif würden als in dem verkümmerten Jerusalem, wo nichts als Luxus und eine große Verzogenheit der Kinder daheim sei. Man könnte Mir schon eine bessere Antwort auf sein Gutstehen für Mich geben, denn er meine, daß Ich schon mit allen Verhältnissen des menschlichen Lebens bestens vertraut sei. Man solle nur die andern Knaben entfernen und mit Mir dann ganz männlich reden.
Aber der Älteste brummte etwas in seinen Bart hinein, und Ich fragte hernach den menschlicher aussehenden Schriftgelehrten bezüglich der Geburtsgeschichte in Bethlehem. Aber auch dieser sagte so ganz weitwendig:
(Der jüngere Schriftgelehrte:) „Ja, du mein lieber, recht holder Knabe, mit jener glücklicherweise total verrauchten Geschichte, die in jener Zeit viel von sich reden machte, ist nun und besonders in bezug auf die dunkle Weissagung des Propheten Jesaias, der nur für seine Zeit in stets dunklen Bildern weissagte, soviel als nichts! Denn die Alten haben sich, glaube ich, wie ich es vernommen habe, nach dem Herodischen Kindermord von Bethlehem – bei welcher Gelegenheit sicher auch ihr aus dem Morgenlande begrüßter König der Juden geschlachtet ward – gar aus Judäa irgendwohin geflüchtet und leben vielleicht gar nicht mehr; denn man hat nachher nichts mehr von ihrem Dasein vernommen.
3. Kapitel – Des Jesusknaben Frage an die Schriftgelehrten: „Wer ist die ,Jungfrau‘ und wer ihr ,Sohn‘?“ Die gute Antwort der weisen Schriftgelehrten
Als Ich auf diese Weise Sprachluft bekommen hatte, sprach Ich zu den Ältesten und Schriftgelehrten, die Mir bedeuteten, daß Ich nun reden solle und fragen, um was ich wolle, und sie würden mir nun pflichtgemäß antworten. Und so begann Ich wieder mit der gestellten Vorfrage und sagte: „Eure noch so sicher scheinend gestellten Worte können das Meer nicht ruhen machen und den rauschenden Winden nicht Stillschweigen gebieten! Nur ein Blinder merkt von den Zeichen dieser Zeit nichts, und als Stocktauber kann er auch nicht vernehmen den mächtigst dröhnenden Geschichtsdonner dieser allerdenkwürdigsten Zeit der ganzen Erde. Während schon Karmel und Sion vor dem angekommenen König der Ehren ihr Haupt geneigt haben und Horeb aus seinen hohen Zinken Milch und Honig fließen läßt, wisset ihr, die ihr am ehesten davon wissen und das harrende Volk davon benachrichtigen sollet, nicht eine Silbe!“
Hier machten alle große Augen und sahen bald Mich und bald wieder sich untereinander an und wußten nicht, was sie Mir erwidern sollten.
Nach einer Weile sagte einer: „Nun so rede du weiter von dem, was du davon weißt!“
Sagte Ich: „Sicher weiß Ich, was Ich weiß; aber darum stellte Ich keine Frage an euch, um Mir das von euch erläutern zu lassen, was Ich ohnehin weiß, sondern nur, daß ihr es Mir zeigtet, wer des Propheten Jesaias schwangere Jungfrau ist, von der eben der Sohn des Allerhöchsten soll geboren werden! Warum wird sie Ihm den Namen ,Emanuel‘ (Gott mit uns) geben? – Warum wird Er Milch und Honig essen, um zu verwerfen das Böse und zu erwählen das Gute? Dieses müsset ihr als Schriftgelehrte denn doch verstehen, was der Prophet unter der schwanger gewordenen Jungfrau, die den bezeichneten Sohn gebären werde, bezeichnet hat!
Ich bin denn doch der Meinung, daß an jener bethlehemitischen Geburtsgeschichte etwas mehr ist, als ihr meinet, und daß jenes Elternpaar, der bekannte Zimmermann Joseph aus Nazareth und dessen später zum Weibe angetraute Jungfrau, samt dem zu Bethlehem geborenen Sohne noch ganz gut leben; denn sie sind durch eine recht weise Vermittlung des damaligen römischen Hauptmannes Kornelius der späteren Grausamkeit des alten Herodes entronnen und leben nun ganz wohlbehalten zu Nazareth in Galiläa.
Solches weiß Ich als ein Knabe von zwölf Jahren, und euch, die ihr doch um alles wisset, sollte das unbekannt sein – zumal Joseph als einer der tüchtigsten Zimmermeister noch alle Jahre für Jerusalem etwas zu machen bekommen hat und ihr ihn gar wohl kennet, sowie dessen Weib, das eine Jerusalemerin ist und bis zu ihrem vierzehnten Jahre im Tempel erzogen wurde? Ist sie nicht eine Tochter der Anna und des Joachim, die nach euren chronischen Aufzeichnungen wunderbarerweise zur Welt kam? Anna war schon hohen Alters, und ohne ein Wunder wäre da an eine Befruchtung wohl nie zu denken gewesen!
Nun, dieses Elternpaar samt dem neugeborenen Knaben lebte bei drei Jahre lang, gleich nach der Flucht aus Bethlehem, wohl in Ägypten, und zwar in der Nähe des Städtchens Ostrazine, nach der altägyptischen Sprache Austrazhina, das soviel sagt als ,ein Schreckenswerk‘, also eine Feste, die allen Feinden zu den Zeiten der Pharaonen den Tod brachte. Später haben die mächtigeren Feinde des alten Ägypten diesen Schreckensort wie vieles andere erobert, und es ist zu unseren Zeiten von dem einstigen Schreckensort und -werk nichts geblieben als der alte, verkümmerte Name, dem die Römer freilich eine andere Deutung gegeben haben als die alten Ägypter.
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